Leseprobe 21. Kapitel zu
  „Die besseren Menschen“.
ISBN: 978-3-7460-5568-8; E-Mail: w.hecht@onlinehome.de

Mesche hat es sich im Polster gemütlich gemacht und schaut zum Fenster hinaus. Noch sind seine Gedanken in das Gespräch vertieft, das er kurz zuvor mit seinem Freund geführt, und das dieser mit den Worten „das weiß ich doch auch nicht“ beendet hat. So kann er nicht erkennen, dass das Auto eine andere Route fährt, als angenommen. Sie sitzen im Fond einer großen Limousine, dessen vorderer Teil vom hinteren durch eine Glasscheibe getrennt ist: Ein Hinweis darauf, dass dieses Auto normalerweise Persönlichkeiten befördert, deren Gespräche nicht vom Fahrer mitgehört werden dürfen.
Frank kaut an den Fingernägeln und grübelt: Die Einladung zum Interview bei Elise kam überraschend und ganz kurzfristig, fast gleichzeitig mit der Limousine, die ihn vor der Haustür erwartete. Und - noch eine Überraschung - mit seinem Freund auf dem Rücksitz. Mesche konnte keine Erklärung für dieses Zusammentreffen finden. Deshalb seine Frage, und deshalb Franks unwillig hingeworfene Antwort, die zu dieser Gesprächspause geführt hat.
Oft genug hat er sich darum bemüht, ein Interview zu bekommen. Nun ist es so weit.
Er zieht den Notizblock aus der Jackentasche, studiert die Gravur auf dem Kugelschreiber und überlegt. Eine Frage muss sich auf die Arbeitsweise und die Zielsetzung des Clubs beziehen. Sein Blick geht zu Mesche, der teilnahmslos neben ihm sitzt. Der wird andere Interessen haben, denkt er. Warum hat sie ihn mit eingeladen? Was geht hier vor?
Als rechts eine Anschlagtafel mit den An- und Abflügen auftaucht, stößt Mesche seinen Ellenbogen in seines Freundes Rippen. „Hier, schau“, sagt er, klopft aufgeregt gegen die Trennscheibe und fragt den Fahrer: „Wo fahren Sie denn hin?“
Doch der reagiert nicht. Stattdessen erklingt eine Stimme: „Sorgen Sie sich nicht, es ist alles in Ordnung. Ich bin schon da und erwarte Sie. Und ich verspreche Ihnen: Diese Fahrt werden Sie nicht bereuen.“ Mesche und Frank schauen sich an: Das war die Stimme von Elise.
„Verstehst du das?“
„Nein.“
Dann schauen sie beide wieder zum Fenster hinaus, der eine nach rechts, der andere nach links.
‚Eine Falle‘, denkt Frank. Jetzt ist er doch froh, Mesche dabeizuhaben. Es beruhigt ihn.
Die Limousine fährt auf den Landeplatz, direkt auf ein Flugzeug mittlerer Größe zu. Dort, auf der obersten Stufe der Treppe steht sie in einem hochgeschlossenen schwarzen Kostüm und winkt. Sie drücken ihre Verwunderung aus, nehmen an dem runden Tisch im Inneren des Passagierraumes Platz, wo sie von zwei Stewardessen empfangen werden, die eine mit einer Getränke-, die andere mit einer Speisekarte. Frank und Mesche sind beeindruckt - ein Dinner bei einem Rundflug über die Stadt, denken sie. Mit zwei Stewardessen - hätte eine nicht genügt?
Eine Antwort sollten sie erst am Ende des Flugs bekommen.
Elise ist auf dem Weg zu einer Talkshow, der Flug wird etwa zwei Stunden dauern, sagt sie. Dort trifft sie auf Gäste, die sie zum großen Teil selbst ausgesucht hat; bekannte Personen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, dazu zwei Journalisten, die ihr unbekannt sind. Die sind das Salz in der Suppe, sagt sie, die Würze, die der Unterhaltung Geschmack verleiht. Denn das Publikum ist erst zufrieden, wenn es Streit gibt. Nur in Maßen natürlich. Große Widersprüche sind Gift für die deutsche Seele. Eine solche Show soll unterhaltsam sein. Dazu gehören Widersprüche, selbstverständlich. Aber keine, die den Bürger verunsichern. Oder sein Gemeinschaftsgefühl verletzen.
Am Horizont deutet sich das erste zarte Rot der untergehenden Sonne an. Mesche, der in der Nähe des Fensters sitzt, betrachtet die flusslose Landschaft mit den vielen Hügeln und kleinen Parzellen, über die sie gerade fliegen. Die Stadt ist schon weit weg.
„Ich glaube“, hört er Elise sagen, während sein Blick noch immer auf die unter ihnen vorbeiziehenden Wiesen und Wälder gerichtet ist, „auf die Wette sind Sie doch jetzt nicht mehr angewiesen. Mit dem Bild von Safiya eröffnen sich für Sie andere, bessere Geldquellen. Die fünftausend Euro, die ich Ihnen versprochen habe, bekommen sie natürlich trotzdem.“
Sie schaut ihn aus den Augenwinkeln an und nickt ein bisschen. An den Mundwinkeln hat ein Lächeln gezupft, das zu flüchtig war, um bis zu den Augen ausstrahlen zu können.
„Und ich hoffe, sie stört es nicht, wenn wir Herrn Voss die Wette gewinnen lassen - er ist ja so stolz auf sein Gespür für gute Geldanlagen.“
Sie wirft Frank einen schnellen Blick zu, nimmt das Glas und trinkt es mit einem Schluck aus.
Die beiden Stewardessen stehen diskret im Abseits, jederzeit bereit, den Wünschen der Passagiere nachzukommen. Die Sektgläser werden abgeräumt, die Blonde, die von Elise ‚Angelie‘ genannt wird, stellt zwei Weißweingläser auf den Tisch, eines für Elise, eines für Mesche, während die Schwarzhaarige, die ‚Nadine‘ heißt, hinter ihr mit einer Flasche in der Hand auf ihren Einsatz wartet.
Frank, der keinen Wein wollte, zieht genüsslich die Luft durch die Nase, die nicht nur Spuren von Elises Parfum enthält, sondern auch den Duft des Kaffees, den er bestellt hat. Die blonde Frau hat er schon einmal irgendwo gesehen, da ist er sich sicher. Das erkennt er an der kleinen Narbe direkt am Haaransatz. Da er sich nicht erinnern kann, spricht er sie direkt darauf an. Angelie stutzt, überlegt und verneint dann die Vermutung.
„Ich weiß, was Sie jetzt denken Frank“, sagt Elise und legt die Arme auf die Lehnen ihres Stuhls, den sie mit einem Knopfdruck nach hinten kippen lässt. „Ich habe um ein Interview gebeten, denken Sie, und jetzt ist es ein Kaffeekränzchen, und dann noch mit Mesche, der sich mehr für Kunst als Politik interessiert - so denken Sie doch, oder? Aber seien Sie nachsichtig mit mir“ - nun zieht sie charmant die Schultern hoch und schlägt die Beine übereinander wie ein hilfloses, schutzbedürftiges Mädchen - „ich bin eine viel beschäftigte Frau und bestrebt, mir die kurzen Momente, in denen ich mich entspannen kann, so angenehm wie möglich zu machen. Auch ich möchte mich hin und wieder über Kunst unterhalten. Ich weiß, dass Sie viel Mühe und Zeit darauf verwenden, etwas über den Club zu erfahren, über seine Ziele, über die Geheimtreffen und so weiter. Seien Sie beruhigt, Sie werden es erfahren.“
Sie macht eine Pause, richtet sich dann auf und fährt fort:
„Sie haben einen meiner Vorträge besucht, ihre Recherchen sind beachtlich, aber auch dem Umstand zu verdanken, dass Sie, so wie ich, gute Beziehungen zur Presse haben. Glückwunsch, Sie haben Biss und Durchhaltevermögen - solche Leute schätzen wir, Sie gehören zur Elite, zu uns also. Da ist Ihr Platz. Ich würde mich freuen, auch Sie einmal bei uns begrüßen zu dürfen.“
Sie reibt sich die Stirn, wendet aber ihre Hand gleich gegen Frank, als sie sieht, dass der ein Aufnahmegerät aus der Tasche zieht:
„Lassen Sie das“, sagt sie, „das Gespräch wird bereits aufgezeichnet, danach wird eine Abschrift angefertigt, die Sie in ein paar Tagen ausgehändigt bekommen.“
Sie schaut auf die Uhr, dreht nachdenklich am Armband und meint:
„Wir haben genügend Zeit. Zwei Gründe haben mich bewogen, Sie hier zu mir ins Flugzeug einzuladen, sofern man das ‚Einladung‘ nennen kann.“
Sie lacht, zeigt ihre weißen Zähne, die, das kann man jetzt sehen, ungleich sind: Der linke Schneidezahn ist leicht nach hinten versetzt und kleiner als der rechte.
„Es gibt so viele Gerüchte und Halbwahrheiten über uns, dass das, was Ihnen zu Ohren und vor die Augen kommt, vermutlich auch wieder mit Lügen und Unterstellungen durchsetzt ist. Ich weiß“, fügt sie schnell hinzu, als sie sieht, dass Frank sie unterbrechen will, „dass die zum großen Teil von uns selbst stammen. Damit soll Schluss sein. Die Informationen, die Sie heute von mir bekommen, sind aus erster Hand; und was ich Ihnen hier im Flugzeug sage, ist die Wahrheit und nichts als Wahrheit.“
Sie öffnet ihre Handtasche, entnimmt einer kleinen Schachtel zwei Ohrringe, die sie sich, während sie spricht, mit geübtem Griff an den Ohren befestigt.
„Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weshalb ich Sie eingeladen habe. Sie wissen jetzt, dass ich auf dem Weg zu einer Talkshow bin. Den beiden Journalisten dort, die mir unbekannt sind, fällt die Rolle zu, mir unangenehme Fragen zu stellen. Das wissen die nicht, aber das ist so. Ich hoffe, das tun sie auch. Das sorgt für Spannung und Unterhaltung, denn das braucht das Publikum. Ich kann gut damit umgehen und bin schlagfertig genug. Aber ein bisschen Training kann nicht schaden, habe ich mir gedacht. Und deshalb sitzen Sie jetzt hier - als Sparringspartner sozusagen. Und ich hoffe, ja erwarte, dass auch Sie mir unangenehme Fragen stellen.“
Wieder lacht sie, schaut erst zu Frank, dann zu Mesche und fährt dann fort:
„Kommen wir zur Sache: Ich möchte mit Ihnen über ein paar grundsätzliche Fragen diskutieren, die über das Gezänk der Tagespolitik hinausgehen; die also nicht nur die nächsten Jahre und Jahrzehnte, sondern die nächsten Jahrhunderte und Jahrtausende in den Blick nehmen. Also Fragen wie: ‚Wohin geht die Entwicklung?‘, und: ‚Was ist das Ziel der Evolution?‘
Obwohl auch ich im Dunkeln tappe, je weiter ich in die Zukunft schaue, interessieren mich diese Fragen sehr.“
Nicht schon wieder, denkt Frank, nicht derselbe Sermon wie schon einmal.
Trotzdem nickt er. Also fährt sie fort:
„Stephen Hawkins - Sie kennen ihn? - ist der Meinung, dass die ungebremste Entwicklung der künstlichen Intelligenz zum Ende der menschlichen Spezies führen wird. Und für Arthur Koestler ist der Mensch ein Irrläufer der Evolution, der seinem Selbstzerstörungstrieb zum Opfer fallen wird. Es gibt aber auch optimistische Stimmen, ich möchte da nur Teilhard de Chardin erwähnen, der überzeugt war, dass der Mensch über sich hinaus auf ein hyper-personales Zentrum zuwächst. Aber das sind alles Spekulationen - an denen beteiligen wir uns nicht, ich referiere sie nur. Wir begnügen uns damit, den nächsten Schritt zu tun. Ganz pragmatisch also. Immer schön auf dem Boden der Tatsachen bleiben - das ist unsere Devise.“
Frank spürt erneut den Sog, den ihre Stimme auf ihn ausübt. Er ist fasziniert und abgestoßen zugleich. Er hört geduldig zu, obwohl er mit Begriffen wie ‚Selbstzerstörungstrieb‘, ‚hyper-personales Zentrum‘, ‚Entwicklungsschritt‘ nicht viel anzufangen weiß.
Während Nadine ein Tablett mit Fingerfood auf den Tisch stellt, winkt er Angelie zu sich und zeigt auf den Kaffeesatz in seiner Tasse, der ihm den letzten Schluck vergällt hat.
„Entschuldigen Sie“, sagt sie, „das kann beim gepressten Kaffee schon einmal vorkommen. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch Filterkaffee oder einen Cappuccino machen - oder ein Gläschen Wein bringen, jetzt zum Abend hin?“
‚Jetzt zum Abend hin‘, wiederholt er mit leiser Stimme und bemerkt, dass ihm noch keine einzige von den Fragen eingefallen ist, die er hatte stellen wollen. Elise greift sich ein mit Lachs belegtes Brötchen, lehnt sich zurück und schaut zufrieden den beiden Damen bei ihrer Arbeit zu.
„Den nächsten Schritt, sagen sie“ - jetzt ist Frank doch noch eine Frage eingefallen - „aber den kann man doch nur tun, wenn man Richtung und Ziel kennt.“
„Eine gute Frage, obwohl“ - jetzt schaut sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an - „logisch zwingend ist sie nicht! Das Ziel kenne ich nicht, das stimmt, den nächsten Schritt aber schon. Der wird mir eingegeben. Denn schauen Sie.“
Sie öffnet ihre Handtasche, zieht einen kleinen runden Stein hervor, den sie auf den Tisch legt, wo er im Schein der Kerzen, die Angelie gerade anzündet, zu leuchten beginnt.
„Das hier ist ein Mysterium“, sagt sie, „das die Wenigsten verstehen können. Dieser Stein, der Mescallit, ist eine Art innere Stimme für mich. Ich sehe es Ihren Gesichtern an, dass auch Sie zu den Ungläubigen gehören - wie soll es denn auch anders sein. Aber Sie sind kluge und belesene Männer und kennen das Daimonion, von dem Sokrates immer wieder gesprochen hat. Das war seine innere Stimme, die ihn jedes Mal warnte, wenn er einen falschen Schritt zu tun gedachte. So hatte er nur richtige Schritte getan, obwohl auch er das Ziel nicht kannte. Und was für ihn das Daimonion, ist für mich der Mescallit.“
Sie nimmt, während sie spricht, den Stein und steckt ihn in die Tasche zurück.
„Der Mescallit ist Ihnen gestohlen worden“, sagt Frank. „Von Abel nämlich, jeder weiß es. Was Sie uns da gezeigt haben, muss also etwas anderes sein, ein ganz normaler Stein wahrscheinlich.“
Frank hatte bemerkt, dass Elise zusammengezuckt ist, als der Name ‚Abel‘ fiel. Aber nur kurz. Danach war sie kühl und bestimmt wie zuvor.
„Nein, mein Herr, ich will es Ihnen erklären: Der Mescallit ist mehr als nur ein Stein, er ist die höhere Instanz, die die Evolution und auch die Geschicke der Menschheit lenkt. Manchmal materialisiert er sich in einem Stein oder etwas anderem. Der ist nur das Medium. Den benutzt er, um uns seine Botschaften zukommen zu lassen. Wenn ich den Stein, den ich eben weggesteckt habe, als Mescalliten bezeichne, dann ist das metaphorisch zu verstehen. Sie dürfen das nicht so wörtlich nehmen.
Jetzt zu Ihrer Frage, die eine andere war: Es ging um den nächsten Schritt - von der Evolution und damit von uns. Und ich sage Ihnen: Als Nächstes wird es eine Weltregierung geben. Dafür kämpfen wir. Dabei stören die vielen nationalen Regierungen natürlich - weil die sich weigern, ihre Macht abzugeben. Die meisten jedenfalls. Die, die nicht zu den Willigen gehören, müssen gewaltsam dazu gebracht werden. Wie das geht, können Sie bei solchen Ländern sehen wie dem Irak, Afghanistan, Libyen und andere - von deren Staatlichkeit ist nicht viel übrig geblieben. Das menschliche Elend, das diese Zerstörung verursacht - eine Frage, die mir an dieser Stelle immer wieder gestellt wird - die müssen wir in Kauf nehmen. Da darf man nicht zimperlich sein. Das Neue kann nur entstehen, wenn das Alte zerstört wird. Unseren Thinktanks und den Medien fällt dabei die Aufgabe zu, den Prozess so darzustellen, dass er wie ein demokratischer aussieht. Das ist, wie gesagt, nicht einfach. Dank der Hirnforscher und der Kognitionswissenschaftler wissen wir inzwischen, wie das geht. Die haben alle gute Arbeit gemacht.“
Sie legt den Kopf leicht zur Seite, streicht mit der linken Hand die herunterfallende Locke zur Seite, prüft mit der rechten den Sitz des blaugrün schimmernden Ohrrings und schaut wieder Frank an.
„Können Sie mir sagen“, erwidert Frank, „welcher Art die Vorschläge sind, die die Thinktanks Ihnen machen? Können Sie Beispiele nennen?“
Plötzlich kommt das Flugzeug ins Schlingern wie ein schlecht gefedertes Auto, das über Kopfsteinpflaster fährt. Elise schaut ängstlich zum Cockpit und wartet, bevor sie antwortet, das Ende der Rüttelbewegungen ab.
„Unsere Einsichten und Haltungen sollen als erstes vom Volk als die richtigen erkannt werden. Dabei müssen wir wie immer subtil vorgehen und auf den Alltagsverstand zielen. Wir müssen an das Offensichtliche anknüpfen, auch wenn das Offensichtliche nicht immer das Richtige ist.“
„Das ist mir zu allgemein“, unterbricht Frank, „können Sie mir Beispiele nennen?“
„Gerne. Nehmen Sie einmal Begriffe wie ‚Reform‘ oder ‚Innovation‘. Die mussten wir aushöhlen und entkernen, um sie dann mit neuen - mit unseren - Inhalten ausfüllen zu können. Die meisten verstehen heute unter Reform etwas, das gemacht werden muss und auch unangenehm sein kann. Das war nicht immer so. Früher bedeutete Reform immer etwas, das das Leben leichter und einfacher machen sollte. Das ist heute anders. Um den neuen Inhalt zu befestigen, sprechen wir auch gerne von ‚notwendigen Reformen‘. Mit diesem Adjektiv wird klar, dass das, was kommt, schmerzhaft sein wird - nicht für alle natürlich, für uns nicht - zufrieden mit der Antwort?“
Nun schaut sie irritiert zu Mesche, der auch etwas aus der Tasche zieht. Als sie sieht, dass das nur ein Skizzenblock ist, fährt sie fort:
„Bei unseren Treffen, sei es bei den Bilderbergkonferenzen, der Nordatlantikbrücke oder anderen, sprechen wir viel darüber. Uns wird vorgeworfen, dass diese Treffen geheim sind. Aber was sollen wir tun? Wenn die breite Masse noch nicht reif für solche Gedanken ist? Die Journalisten haben den Auftrag, sensibel mit unseren Informationen umzugehen und sie nur gut dosiert unter die Leute zu streuen -also nur so viel, wie sie verdauen können. Aufgabe der Medien ist es, um es einmal allgemein auszudrücken, die notwendigen Operationen am Kollektivhirn vorzunehmen. ‚Auf leisen Sohlen ins Gehirn‘, hat das einmal ein amerikanischer Soziologe genannt. Eine Art minimal-invasive Chirurgie am Gehirn würde man in der Medizin dazu sagen.“
Elise reibt sich die Schläfe und meint, zu Frank gewandt:
„Uns ist bewusst, dass es immer eine Restgruppe geben wird, die versucht, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Für die benötigen wir eine Spezialbehandlung. Ich weiß, dass zu diesem Zweck manchmal auch Kalaschnikows und Streubomben eingesetzt werden müssen - aber das sind Methoden, die ich anderen überlasse. Ich bin der Meinung, dass man durch Argumente viel mehr erreicht als durch Zwang und Gewalt. Ich ziehe es vor, mit Symbolen, Bildern und Worten zu arbeiten. Wie Sie sehen, bin ich Ihnen gegenüber ganz offen. Ich weiß, dass Sie das, was ich sage, auch in dieser Deutlichkeit an die Öffentlichkeit weitergeben werden - ich rechne sogar damit. Bei der Talkshow werde ich zurückhaltender sein. Weil meine Worte mehr Gewicht haben als ihre und ernst genommen werden.“
Elise macht ihre Tasche auf, sucht etwas, schüttelt kurz den Kopf und klappt die Tasche wieder zu.
„Wenn ich das einmal zusammenfassen darf“, sagt Frank, „dann versuchen es die einen mit roher und Sie mit sanfter Gewalt. Aber Gewalt ist Gewalt. Und das Ziel ist dasselbe: die Weltherrschaft.“
„Aber das ist doch nichts Schlechtes“, erwidert Elise erregt. „Nur eine Weltregierung kann für die Ordnung sorgen, die wir brauchen. Mit den Kriegen in der Vergangenheit haben wir es nur zu regional begrenzten Einheiten geschafft. Jetzt aber spannen wir unser Netz über die ganze Welt. Wir bauen Strukturen, die, das gebe ich gerne zu, oft unsichtbar bleiben, weil wir das meist hinter dem Rücken der Beteiligten tun. Es ist ein einmaliger welthistorischer Prozess. Der dazu führt, dass wir zu einer globalen Einheit zusammenwachsen. Das Chaos jetzt ist ein notwendiges Durchgangsstadium. Zunächst einmal muss es noch chaotischer werden, denke ich. Das Bedürfnis nach Orientierung kann nur wachsen, wenn noch mehr Staaten destabilisiert und zersetzt werden. Und wenn es dann so weit ist, dann kommen wir und machen unser Angebot. So fügt sich eines zum anderen. Alles ist in sich stimmig und gut durchdacht. Das ist etwas, auf das ich stolz bin: Wir errichten ein Gedankengebäude und irgendwann klettern alle darin herum - ein wunderbares Gefühl ist das, das sage ich Ihnen.“
Sie nippt an ihrem Glas, schaukelt vor und zurück und schließt genießerisch die Augen.
„Sie machen also ein Angebot. Welches denn?“
Nun öffnet sie die Augen wieder, wippt aber weiter.
„In dem Menschen sitzt das tiefe Bedürfnis, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen. Arthur Koestler schreibt, dass in der öden Routine des Kriegführens aggressive Gefühle gegenüber dem Feind kaum eine Rolle spielen. Entweder kämpfen die Soldaten, weil sie keine andere Wahl, oder weil sie sich für den König, das Vaterland oder eine Sache begeistert haben. Getrieben nicht von Hass, sondern von Loyalität. Der Mord aus selbstlosen Motiven, unter Einsatz des eigenen Lebens, ist das vorherrschende Phänomen in der Geschichte, sagt er.“
„Sie schweifen ab. Es geht um das Angebot, das Sie machen wollen.“
„Nein, ich schweife nicht ab - das, was Koestler sagt, ist auch unsere Meinung - und von daher kommt auch unser Angebot. Wir geben den Menschen ein neues Selbstwertgefühl und zeigen ihnen, dass sie mit uns für eine große Sache kämpfen und Teil eines größeren Ganzen sind. Eines Ganzen, das sich von den Anfängen der Evolution bis heute und darüber hinaus in die Zukunft erstreckt. Ich weiß, das sind hehre Gedanken, die sich bisher nur wenige Menschen zumuten konnten, ohne von ihnen überwältigt zu sein.“
„Aber“ - beginnt Frank erneut, wird jedoch durch eine Handbewegung von Elise daran gehindert, weiterzusprechen - „Moment, ich bin noch nicht fertig, dann können Sie reden:
Erstens: Wir kämpfen für das große Ganze. Das sollte klar geworden sein.
Zweitens, und das folgt schon aus erstens: Diese Sache, um die es geht, ist nicht einfach eine Sache nur der Elite, sondern etwas, das uns alle angeht, also unsere gemeinsame Sache.“
Nun sitzt sie zufrieden in ihrem Sessel und schweigt. Auch Frank schweigt. Und Mesche sowieso. Nur das monotone Brummen des Motors ist jetzt noch zu hören.
„Kein Mensch weiß, was die Zukunft bringt“, beginnt Frank und richtet sich auf, sodass er größer wirkt, als er ist, „Sie auch nicht. Trotzdem behaupten Sie es. Und damit es glaubhaft klingt, behaupten Sie, Ihr Wissen von einer höheren Instanz zu beziehen. Dazu haben Sie den Mescalliten erfunden - irgendein Ding, dem Sie magische Kräfte andichten. Mich wundert, dass Sie nicht den Markt genommen haben. Der ist doch heute der Götze, dem geglaubt wird, dass er wie durch Geisterhand alles regeln kann. Stattdessen haben Sie so einen Stein genommen, der macht ja dasselbe und kann sogar vorgezeigt und in die Tasche gesteckt werden.“
Frank beobachtet, während er redet, Elise genau, deren Miene sich verfinstert hat. Und er fährt fort:
„Tatsache ist, dass es diese höhere Instanz, die Sie für sich in Anspruch nehmen, nicht gibt - allenfalls als Hirngespinst. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Und ihren Journalisten fällt die Aufgabe zu, diese Spinnerei in die Köpfe der Menschen zu drücken und sie glauben zu machen, dass es keine Spinnerei, sondern Realität ist.“
Elise lacht: „Können Sie mir sagen, was das ist - die Realität?“
Frank überlegt und zuckt mit den Schultern.
„Nein? Sie haben es ja auch schon selbst erkannt: Realität ist das, was wir als Realität ausgeben.“
„Und die sieht folgendermaßen aus - darf ich das noch ausführen“, sagt Frank, sichtlich erregt. „Sie hetzen die Menschen gegeneinander auf und zwingen sie in einen Überlebenskampf. Die einen leiden darunter, dass sie zu viel und die anderen darunter, dass sie zu wenig Arbeit - oder gar keine haben. Und alle haben Angst - das ist die Realität, die Sie schaffen! Denn wer Angst hat, der durchschaut ihre Tricks nicht mehr, der hat andere Sorgen. Sie brauchen Menschen, die sich zu den Rädchen formen lassen, die in ihr Getriebe passen. Wo bleibt die Musik, der Tanz, die Kunst? Das freie Spiel der Kräfte, der Selbstentfaltungskräfte? Das, was den Menschen zum Menschen macht?“
Elise hat ihren Stuhl etwas zur Seite in Richtung Mesche gerückt und wippt mit dem Fuß. Auf den vorderen Teil ihrer roten Pumps hat sich ein Lichtstrahl gesetzt, der einen hellen Fleck an die Decke zaubert. Elise sieht das und macht sich einen Spaß daraus, ihn an den Wänden entlang wandern zu lassen.
„Was für ein Furor - ich bewundere Sie! Sie haben sich zu genau dem Sparringspartner gemausert, den ich mir gewünscht habe! Eine Philippika, einfach so aus dem Handgelenk geschüttelt - oder haben Sie die vorbereitet? Um Ihre Worte zu benutzen: Wir sind tatsächlich Rädchen im Getriebe - aber es ist nicht unser Getriebe, es ist das Getriebe der Evolution. Ich wiederhole noch einmal, auch wenn Sie das nicht glauben wollen: das meiste von dem, was ich sage, wird mir eingegeben - in einer Sprache und Symbolik, die nur wenige verstehen. Ich übersetze nur. Es ist wie ein Lichtstrahl, den ich ins Diesseits lenke. Und ich freue mich, dass Sie auch die Kunst ansprechen. Das gibt mir die Gelegenheit, Ihren Freund mit ins Gespräch einzubeziehen. Denn Sie“ - sie wendet sich an Mesche - „müssten für das, was ich sage, schon mehr Verständnis haben als Ihr Freund. Denn es gibt nicht wenige Maler, die meinen, dass nicht sie malen, sondern dass es malt. Bei Schriftstellern und anderen Künstlern ist es ähnlich - da gibt es große Gemeinsamkeiten: ‚es‘ malt, ‚es‘ schreibt, ‚es‘ denkt - verstehen Sie, was ich meine, wenn ich von einer ‚höheren Instanz‘ rede?“
Mesche genießt es, endlich auch über Kunst und Künstler reden zu können. Jetzt wird viel gelacht, und an dem heiteren Gespräch beteiligen sich erst Angelie, dann auch Nadine, die ihre Berufskleidungen durch elegante, modische Kleidungen ersetzt haben. Sie schenken sich und den anderen immer wieder ein und bereichern die kleine Runde mit ihrem angenehmen, entspannten Plauderton. Das weiß auch Frank zu genießen. Und Mesche sowieso.
Als vom Cockpit die Aufforderung kommt, sich anzuschnallen, merkt Frank, dass die Zeit knapp wird und beeilt sich, doch noch die eine oder andere Frage loszuwerden.
„Bei meinen Recherchen“, sagt er, „bin ich auch schon auf den einen und anderen Ihrer Gedanken gestoßen. Auch habe ich einiges von dem wiedererkannt, was Sie schon damals in Ihrem Vortrag gesagt haben - wenn auch nicht so deutlich. Überraschend neu ist das also alles nicht - für mich jedenfalls nicht. Überraschend vielmehr ist die Klarheit und Deutlichkeit, mit der Sie mir das alles anvertrauen. Sie müssen doch damit rechnen, dass es demnächst genauso in der Zeitung stehen wird. Wollen Sie das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen. Also müssten Sie mich doch daran hindern, das zu tun, was zu tun meine Pflicht ist.“
„Gut, dass Sie diese Frage doch noch stellen. Das Experiment, das ich heute mit Ihnen mache, ist neu, das haben Sie richtig erkannt. Noch nie habe ich unser Konzept in der Öffentlichkeit so klar skizziert, das stimmt. Jetzt wissen Sie Bescheid, jetzt brauchen Sie sich nicht mehr um Zutritt zu unseren Geheimtreffen bemühen, denke ich. Das Risiko, das ich eingehe, ist aber begrenzt.“
Nachdem sie den von ihr produzierten Lichtfleck eine Weile an der Wand hat hin- und herwandern lassen, fährt sie fort:
„Ich kann Ihnen sagen, was passiert, wenn Sie tun, was zu tun Ihre Pflicht ist.“
Sie nickt heftig, sodass ihr die Locke wieder ins Gesicht fällt.
„Die Leute werden, wenn sie Ihren Artikel lesen, ungläubig den Kopf schütteln, ‚Verschwörungstheorie‘ murmeln, und dann zur Seite legen. Das sind die subtilen Denkverbote, die wir verhängen, wenn ein Journalist einmal zu deutlich wird. Man kann ja, wie Sie wissen, nicht nur Computer programmieren, sondern auch Gehirne. Jeder Mensch nimmt nur solche Informationen auf, die in sein Wahrnehmungsfenster passen. So können wir festlegen, was geglaubt wird und was nicht. Medien informieren nicht nur, sie erziehen auch.
Von Zeit zu Zeit überprüfen wir, ob die grauen Zellen noch in dem Zustand sind, in den wir sie versetzt haben. Denn das kann sich ändern - sicher sind wir nie. Schreiben Sie also getrost alles auf, was Sie heute gehört haben - auch in dieser Deutlichkeit. Unsere Version von diesem Gespräch bekommen Sie ja auch noch zugeschickt. Dass Sie tun, was zu tun Ihre Pflicht ist, ist nicht nur in Ihrem, das ist auch in unserem Sinn. Denn wir wollen wissen, ob die Öffentlichkeit noch so reagiert, wie wir uns das wünschen.“
Das Flugzeug ist zum Stehen gekommen. Sie schaut auf die Uhr, erhebt sich.
„Also, bis morgen früh - und bleiben Sie uns erhalten, wir brauchen Sie - so oder so!“
„Einen Augenblick noch“, sagt Frank, „wenn es so ist, wie Sie sagen, dann werden die Leute dem, was ich schreibe, nicht glauben und Verschwörungstheorie dazu sagen. Reflexartig sozusagen. Meinen Sie das?“
„So ist es - noch. Sie sind aber nicht der Einzige, der diese Gedanken unters Volk bringt - nur der Erste. Wir werden sie immer wieder ausstreuen, mal in dieser, mal in jener Form. Zunächst nur hin und wieder, dann immer öfter. Das wird Wirkung zeigen. Und es wird der Tag kommen, an dem jeder, auch Sie, all das, was Sie heute noch bezweifeln, als die einzig richtige Wahrheit anerkennen - wetten dass?“
„Moment“, sagt Frank und springt auf, „Sie glauben also, dass der ganze Unsinn, den Sie mir erzählt haben, eines Tages doch noch geglaubt wird? Auch von mir?“
Sie nimmt Mantel und Tasche, eilt zum Cockpit, verabschiedet sich von den Piloten, dreht sich aber, bevor sie die Gangway betritt, noch einmal zu den Männern um:
„Wie es für Sie weitergeht, bleibt ganz Ihnen überlassen. Die Piloten werden, wenn Sie das wünschen, umdrehen und zurückfliegen. Sie können aber auch die Gelegenheit nutzen und sich die Stadt zeigen lassen - von den beiden Damen, die kennen sich hier aus. Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass Sie die Nacht hier im Flugzeug verbringen. Es gibt weiter hinten zwei schön eingerichtete Schlafzimmer. Auch da kennen sich die Damen aus. Und scheuen Sie sich nicht, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen.
Ich selbst werde die Nacht in einem Hotel verbringen. Und morgen früh zurückfliegen. Vielleicht mit Ihnen zusammen. Das würde mich freuen.“
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