ISBN: 978-3-941216-46-4


Klappentext
zu
„Der Tee, die Null und der Mond“
               von W. Hecht.

Der Mann, der im Flugzeug auf dem Platz neben Daniel sitzt, liebt es, seine Gesprächspartner in Diskussionen über kleine mathematische Alltagsätsel zu verwickeln. Der vom Erfolg verwöhnte Programmierer läßt sich darauf ein, ahnt aber, dass damit ganz andere Absichten versteckt werden sollen.
Als er hinter das Geheimnis des Beutels kommt, den der Fremde fast ständig am Gürtel trägt, wird sein wissenschaftlich geschulter Verstand auf eine harte Probe gestellt; denn nun verfällt er dem Zauber einer Frau, die behauptet, dem Olymp der Götter entflohen zu sein.
Das Verhalten der beiden Exoten lenkt den Blick auf so manche Dinge unserer Realität, die für uns selbstverständlich, für andere aber rätselhaft sind.
Alte Gewissheiten werden fragwürdig und alte Bindungen brüchig; und trotz seiner Unsicherheit und Angst ahnt Daniel, dass sein Leben tiefer und reicher sein könnte als es ist.

Leseprobe

Noch in meinen Träumen sah ich die beiden Augenhöhlen des Schädels vor mir; und manchmal war es mir, als ob sich darin etwas bewegte; ich wurde die Vorstellung nicht los, dass in diesen Höhlen sich einmal tatsächlich menschliche Augen befanden, die blinzeln konnten, die verschmitzt lächeln und die strahlen konnten.
So verlockend der Gedanke war, dass er der Mörder dieses Menschen sein könnte - ein Mörder war er nicht!  Vielleicht hat er sich mit dem Schädel ja nur ein kleines Andenken an seinen Gürtel gehängt! In der Zeitung wurde von einer Frau berichtet, die die Asche ihrer Mutter zu einem Diamanten hat verarbeiten lassen, den sie nun um den Hals trägt.
Isabelle, kannst du dir vorstellen, dass dein Schädel einmal am Gürtel.....ja, Isabelle, du wirst dich von der hohen Meinung verabschieden müssen, die du von diesem Harlekin hat! Ein Schädel, Isabelle, stell dir vor, ein Schädel, vielleicht dein Schädel!
Und je mehr ich darüber nachdachte, wie, in welcher Form, ich sie über dieses abstoßende Detail in Kenntnis setzen könnte, desto mehr reizte es mich; ich muss dabei nüchtern, sachlich und unbeteiligt bleiben, so wie ein Nachrichtensprecher etwa! Das heißt, ich setze sie einfach nur in Kenntnis: „Du musst wissen.....“, ja, so fange ich an: „Du musst wissen, Isabelle ......“
Und wenn sie dann sagt: „Ich will das gar nicht wissen?“  Ja, so ist sie eben: Gerade sein seltsames Verhalten war es, das diesen Mann für sie so interessant machte! In unserem Leben blieb ein unausgefüllter Rest, das wusste ich, und bei jedem Flunkerer, der ein bisschen Abwechslung versprach, konnte sich dieser zur bedeutenden Größe aufblähen und alles andere erdrücken: die Liebe, das Vertrauen! Und obwohl sie genau so leben wollte, wie wir lebten, suchte sie doch das Gefühl, jederzeit anders leben zu können! Sie ist da ganz Kind ihrer Zeit, nicht ganz so wie Alexa, aber doch ein bisschen so. Es würde mich auch nicht wundern, wenn sie mit ihr auch schon über diesen Flunkerer gesprochen hätte!
Mein Programm lief nicht so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte. Obwohl ich bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, konnte ich den Schlaf nicht finden, den ich suchte. Mehrere Stunden hatte ich den Fehler gesucht und nicht gefunden. Es musste sein wie mit dem Schlüssel, den man immer wieder da sucht, wo er sein sollte, aber nicht ist; oft liegt er dann ganz in der Nähe und man sieht es nicht - ich kenne das schon! Weiteres Suchen hilft da nicht weiter! Ich musste meine Gedanken von der Verklammerung mit diesem Problem lösen, ich musste, obwohl ich bereits unter Zeitdruck stand, mir einen Tag Ruhe gönnen, mich entspannen, mir selbst und besonders meinen Gedanken zu einem kleinen Spaziergang verhelfen. Ich trat aus dem Haus, blinzelte in die Sonne und musste entscheiden: nach links oder nach rechts? Ein rotbraun gefärbtes Ahornblatt schaukelte vergnüglich zur Erde - das erstaunte mich, denn der Baum trieb gerade sein erstes zartes Grün hervor. Das Blatt musste vom Herbst übrig geblieben sein, und jetzt, da der Nachwuchs hervor drängte, die Vergeblichkeit seines Festhaltens am Baum eingesehen haben. Ich erinnerte mich an die bunten Blätter im Herbst, die mich immer so entzückt hatten, und wunderte mich, dass sie sich dann, wenn sie am schönsten sind, vom Baum lösen und absterben; oder umgekehrt, vielleicht ist es umgekehrt, dass sie erst sterben und dann schön werden - ist Sterben wirklich schön? Wie vergnüglich es zu Boden schaukelte! Wenn es Töne von sich geben könnte, dann ergäbe das eine Melodie von Mozart! Das Blatt spielte Mozart - auf seine Weise natürlich!
Wie wohl Schaukeln zu Stande kommt? - das, dachte ich, würde Hermethos jetzt fragen! Könnte er die Musik hören? Durch die Luftströmung entlang der Blattoberfläche entstehen Kräfte, die das Blatt drehen, seine Lage verändern, zu anderen Strömungen und anderen Kräften führen, ein dauerndes Hin und Her, und das könnte doch eine Erklärung für das Schaukeln sein. Würde das reichen? Wäre er zufrieden mit dieser Erklärung? Zum ersten Mal, dass ich das Schaukeln der Blätter auf diese Weise - mit seinen Augen - betrachtete. Exakt naturwissenschaftlich! Sollte er mich auch schon infiziert haben?
Ich fing das Blatt auf, hielt es gegen die Sonne, betrachtete das Gerippe der Äderchen und das Skelett, das dem Blatt den Halt gab. Deutlich sichtbar waren die zwei Seitenadern, die von der Mittelrippe jeweils nach links und rechts abgingen zu den Ausstülpungen, die dem Blatt - wenn man so will - das Aussehen einer Hand gaben. Ich wollte es dort nicht liegen lassen, es hatte einen besseren Platz verdient, vielleicht auf meinem Schreibtisch, vielleicht in einem Buch von Isabelle.
Plötzlich war ich in der Semelestrasse. Bestimmt war der Mann mit den komischen Schuhen ihr schon aufgefallen, die Strasse ist ja nicht sehr groß, eine reine Wohnstrasse mit einem kleinen Supermarkt und einem Töpferladen in der Mitte!
Sie führt zu einem Park, mit einem Spielplatz und Bänken vor den Blumenbeeten - ein Platz, der an warmen Sommernachmittagen viele Müßiggänger, Liebespaare und Mütter mit kleinen Kindern anlocken wird!
Ich setzte mich auf die Bank, deren eine Hälfte von der Sonne beschienen wurde und hoffte auf ihre wärmende Kraft. Eine alte Dame schob einen Kinderwagen vorbei. Ich fuhr mit dem Finger über den Teil des Holzes, der noch im Schatten lag und schloss die Augen, um die Stelle zu erfühlen, wo der schattige Teil in den sonnigen überging.
Acht Minuten braucht das Licht, um von der Sonne hierher zu kommen; etwa zweitausend Jahre, um vom Stern Deneb hierher zu kommen - und umgekehrt. Wer sich jetzt auf dem Deneb befindet, sieht die Erde so, wie sie vor zweitausend Jahren war -  und vielleicht kann er - eben jetzt - Christis Krabbelversuchen oder den Kriegen von Kaiser Augustus zusehen.
Ein Spatz hatte sich zu mir gesetzt, drehte das Köpfchen nach links, nach rechts - was er wohl sah, wenn er mich sah? Er hüpfte von der Bank herunter, pickte etwas auf - und flog davon.
Plötzlich wunderte ich mich darüber, dass ich jetzt hier war - in einer Gegend, die ich sonst nicht aufsuchte - und nur wenige Schritte von Alexas Wohnung entfernt.
Sie öffnete im Morgenmantel und mit Lockenwicklern in den Haaren - „Du, Daniel? - Komm herein! Aber sieh dich vor! Ich habe eine Erkältung und seit heute auch leichtes Fieber! Nicht, dass du dich ansteckst!“  Ich trat in ein Zimmer mit Einbauküche, einem Sofa und einem kleinen Schreibtisch. Es roch nach Kaffee.
„Stört es dich, wie ich aussehe?“
Schon waren ihre Hände zum Gürtel ihres Morgenmantels gewandert, so, als wollten sie die Schlaufe aufziehen - und, ohne eine Antwort abzuwarten:
„Ja, ich glaube, es stört dich, warte einen Moment!“
In der Mitte vom Esstisch stand eine dünnhalsige Vase mit einer exotischen Blume, deren Blüte wie eine Zunge aussah; ihr Rot bildete einen grellen Kontrast zu dem dunkelgrünen Blatt, von dem sie umhüllt wurde. Auf dem Bild an der Wand dahinter konnte ich eine riesige Wasserwelle erkennen, die gerade dabei war, vornüber zu kippen; die Gischt war sehr kunstvoll über den Kamm verteilt - eine Fotografie, nahm ich an, die retuschiert worden ist. An derselben Wand, mehr zur Musikanlage hin, noch ein Bild mit riesigen herabstürzenden Wassermassen - die Niagarafälle, nahm ich an.
Beschwingt und leichtfüßig kam sie zurück - bekleidet mit einem Rock, der gerade das Knie bedeckte. Die halbdurchsichtige Bluse ließ einen Teil der Schulter frei. Vorn wurde sie von einem schwarzen Band zusammengehalten, das in Höhe des Ausschnitts in einer kleinen Schleife endete. Den letzten Zipfel der Bluse musste sie unter den Rock schieben und den Rock zurechtrücken, er saß noch nicht richtig.
„Du kommst sehr überraschend, muss ich sagen! Ich glaube sogar, du bist zum ersten Mal hier - zum ersten Mal ohne Isabelle, meine ich - stimmt‘s?“
Sie rückte den Stuhl zurecht, setzte sich mir gegenüber, schlug die Beine übereinander; dabei rutschte der Rock über das Knie, jetzt erst sah ich, dass es ein Wickelrock war. Ein exotischer Duft kam in den Raum zwischen uns und verdrängte den von frischem Kaffee.
„Also, was führt dich zu mir, Daniel?“
„Ich spazierte im Park herum, lauschte dem Gezwitscher der Vögel, fühlte die aufkommende Fröhlichkeit und bekam Lust, sie mit jemandem zu teilen - und du wohnst ja gerade hier um die Ecke! Ich habe natürlich nicht geahnt, dass du so lange im Bett liegen würdest!“
„So? Na, gut! Möchtest du Kaffee? Eine Tasse ist noch da! Aber ich kann auch neuen machen!“
Sie hielt den Deckel der Kanne fest und beugte sich nach vorne, sodass ihr die Haare ins Gesicht fielen; vorsichtig goss sie den Kaffee in die Tasse, die ich ihr entgegenhielt, und wartete, bis der letzte Tropfen heraus war; dann stellte sie die Kanne behutsam auf ihren Platz zurück; drehte sich kurz zu ihrem Stuhl um, fasste den Rock in Höhe der Knie zusammen und achtete beim Sitzen darauf, dass er nicht wieder auseinander rutschte; dabei lächelte sie still in sich hinein und strich mit anmutiger Geste ihr leicht in Unordnung geratenes Haar in die alte Form zurück.
„Ich war in einer Jazzkneipe gestern, prima Musik sag ich dir, ich glaube, ich gehe da jetzt öfters hin - kennst du sie vielleicht? Kennst du das Blue-Note?“
Ich schüttelte den Kopf: „Da warst du trotz der Erkältung?“
„Ja, das hätte ich nicht tun sollen! Dafür bleibe ich ja jetzt zu Hause! Magst du den Blues? Hat nicht Isabelle so etwas gesagt? Gestern gab es allerdings mehr Dixie als Blues!“
Ein Luftzug kam durch das halb offene Fenster und verhalf dem dünnmaschigen, durchsichtigen Vorhang zu einem kurzen Ausflug ins Innere des Zimmers.
„Eine Geige war auch dabei - ich habe zum ersten Mal eine Geige Jazz machen hören! Ich kenne die Geige ja nur von der klassischen Musik her - mein Gott, wie habe ich mich als Kind damit herumquälen müssen - aber gestern, das sage ich dir, das war Spitze!“
Sie hob die linke Hand, formte mit dem Daumen und dem Zeigefinger ein O, spitzte den Mund und wiederholte: “Spitze!“
„Diese Art von Musik hören heutzutage doch nur Oldies, Alexa!“
„Na und? Das ist wenigstens Musik! Oder willst du sagen, dass Techno oder Rap Musik ist? Diese Sprechgesänge?“
Sie betrachtete ihre Fingernägel und schaute dann zum Vorhang, der einen weiteren vergeblichen Versuch unternahm, bis zur Kaffeekanne vorzudringen.
„Zieht es dir, soll ich das Fenster zumachen?“
Ich schüttelte den Kopf: „Bis wann hat denn die Band gespielt?“
„Ich weiß nicht genau - bis halb zwei oder zwei vielleicht; um eins bin ich gegangen!“
„Und wie lange hast du selbst Geige gespielt?“
Ohne auf meine Frage zu achten sprang sie auf und rannte zum Herd. Ich ging zum Fenster und zog den Vorhang zurück, um die Sonne hereinzulassen. Nur selten kam ein Auto vorbei, eine sehr ruhige Straße, diese Semelestrasse.
„Entschuldige, aber fast wäre mir die Milch angebrannt. Es gibt jetzt Milchreis! Möchtest du?“
„Milchreis?“
„Meinetwegen kann ich dir auch einen Toast machen!“
„Und du isst Milchreis?“
„Nur wegen gestern - das hilft gegen den Restalkohol!“
Über den Milchreis war Zimt und Zucker gestreut und der Rand des Schälchens war dekorativ mit Mandarinenstückchen verziert. Ich trank den letzten Rest Kaffee und betrachtete sie. Sie saß über das Schälchen gebeugt und aß langsam und genüsslich; immer wieder schaute sie auf - ich spürte den forschenden, neugierigen Blick; offensichtlich versuchte sie, sich einen Reim auf meinen überraschenden Besuch zu machen - genau wie ich, denn auch ich wusste nicht, warum ich eigentlich hier war. Aber vorhin am Fenster hatte ich mich dabei ertappt, wie ich Ausschau hielt nach dem Haus, in dem Hermethos wohnte. Wenn er tatsächlich der Grund für meinen Besuch sein sollte, dann war das ein sehr unlogischer Grund - denn nichts war mir bekannt darüber, dass Alexa irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte.
„Du hast Glück, bei offenem Fenster frühstücken zu können! Nicht jede Straße ist so ruhig wie die Semelestrasse!“
„Ja, ich fühle mich wohl hier!“
„Und was für Leute wohnen hier? Kennst du deine Nachbarn?“
„Alles gutbürgerliche Leute, nicht mehr ganz jung, kaum Kinder - sag mal, jetzt fällt mir was ein!“
Plötzlich legte sie den Löffel beiseite, das Schälchen war noch halbvoll. Sie saß aufrecht, mit durchgedrücktem Rücken, wie elektrisiert von einem Gedanken, der ihr plötzlich gekommen war.
„Ich weiß nicht, ob dir Isabelle davon erzählt hat! Du kennst doch Hermethos? Hat sie von unserer Begegnung erzählt?“
„Nein, was denn?“
„Nicht? Moment mal!“
Ich war überrascht wie ein Kind, das endlich den Teddy findet, den es lange gesucht hat. Nachträglich bekam dieser Besuch doch noch seinen Sinn. Ab sofort hatte ich eine Verbündete, die mir half - so hoffte ich - diesem merkwürdigen Mann auf die Spur zu kommen.
Sie war zum Schreibtisch gegangen und suchte dort etwas; und während sie suchte, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die mir Isabelle einmal erzählt hatte: Alexa sah am Zeitungskiosk auf dem Bahnhof einen Mann, den sie kennen lernen wollte. Er schaute hektisch auf seine Uhr, kaufte schnell eine Zeitung und eilte in Richtung Bahnsteig davon. Alexa ließ ihn nicht aus den Augen, lief hinterher und stieg ebenfalls in den Zug ein, obwohl sie keine Fahrkarte hatte. Sie folgte ihm durch das Abteil und setzte sich neben ihn. Sie hatte Glück, dass der Platz neben ihm noch frei war. Es ist dieses entscheidende bisschen Glück, das Alexa immer hat. Manchmal denke ich, dass Menschen, die zupacken können und das Leben einfach so nehmen, wie es ist, mehr Glück haben als andere, die behutsamer und bedächtiger sind. Aber manchmal denke ich, das kann nicht sein, denn dass dieser Platz frei war, das war Zufall und hatte nichts damit zu tun, dass es ausgerechnet Alexa war, die ihn haben wollte. Nach 50 km stieg sie wieder aus - mit seiner Visitenkarte als Beute. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Sie hat ihn dann wiedergesehen, soviel hat Isabelle noch erzählt - aber ich weiß nicht, was daraus geworden ist.
„Wir gingen an seiner Haustür vorbei, als er gerade seinen Schlüssel suchte - er wohnt ja nicht weit von hier! Erst wollte er uns zu einer Tasse Kaffee einladen, aber dann fiel ihm ein, dass er noch etwas zu tun hatte! ‚Zu dumm‘, meinte ich, gerade jetzt, wo ich eine solche Lust auf Kaffee habe!‘ Das stimmte zwar nicht, aber er war nett und charmant, und ich fand es schade, dass nichts aus der Einladung werden sollte.“
Sie schwieg, lächelte verschmitzt und warf dann - wie um einen Gedanken abzuschütteln - den Kopf nach hinten.
„Daraufhin bedauerte er“ - Alexa versuchte, mit einer tiefen Verbeugung dieses Bedauern darzustellen - „bedauerte sogar sehr“ - die Verbeugung wurde noch tiefer - „und sprach von irgendwelchen Verpflichtungen. Und außerdem - dabei machte er eine bedeutungsvolle Pause - sei er gerade auf ein Problem gestoßen, das er unbedingt lösen wolle.“
Alexa nahm das Schälchen in die Hand und löffelte den letzten Rest Milchreis heraus.
„Ich witterte schon eine Finte, und ich bestehe darauf: Es war eine Finte!“
„Was für eine Finte?“
„Na, wie findest du denn das? Statt eines Kaffees serviert er uns ein mathematisches Problem! Und das mitten auf der Strasse! - Gut, er hat sich vielmals entschuldigt, aber trotzdem: eigentlich ist das eine Unverschämtheit!“
„Du nimmst das zu persönlich, Alexa! Er hatte keine Zeit, aber dafür ein Problem - ich kenne das!“
„Aha, du kennst das!“
„Hat er denn gesagt, was ihn so beschäftigt?“
„Ja, pass auf, ich zeig‘s dir!“
Sie legte das Blatt Papier vor mich auf den Tisch.
Ich sah zwei Kreise, und an den Rändern der Kreise, in regelmäßigen Abständen, kleinere Kringel, bei dem einen vier, bei dem anderen drei.
„Isabelle wollte wissen, was das denn für Kringel seien, da lächelte er nur und erzählte uns eine Geschichte - eine sehr eigenartige Geschichte von einem Kellner, der auf zwei der großen, runden Tische gleich viele Gedecke gestellt hatte. Alle schön im gleichen Abstand natürlich! Dann kam ein Anruf. Daraufhin hat der Kellner von jedem der Tische so viel Gedecke weggenommen, dass bei dem einen vier, bei dem anderen drei übrig blieben - wiederum im gleichen Abstand natürlich! Stell dir nur vor: statt eines Kaffees serviert er uns eine solche Geschichte! Nun kam seine Frage: Wie viel Gedecke standen ursprünglich auf jedem der Tische?“
Wieder ein völlig anderes Rätsel, dachte ich; die Taschen dieses Mannes sind vollgestopft mit Rätseln!
„Ich gebe dir Recht, Alexa, das sieht nach einer Finte aus!“
„Nicht wahr, das glaubst du doch auch! So eine banale Geschichte! Er kann uns doch nicht weismachen, dass ihn das wirklich interessiert!“
„Und warum erzählt er sie dann - was glaubst du?“
„Um einen Grund für ein späteres Treffen zu haben! Ein bisschen verschroben und verquakt! Aber Männer sind manchmal so!“
„Das ist nun wieder deine Sicht der Dinge, Alexa!“
„Und deine? Du sagst doch auch, dass das eine Finte war!“
„Ja schon, ich glaube, dass er nur so tut, als ob er das Problem noch nicht gelöst hat! Ich glaube, dass er sich dumm stellt!“
„Wie bitte? Was hat er denn davon, sich dumm zu stellen?“
„Er macht sich menschlich! Leute, die  klug sind, haben es schwer, Freunde zu finden - also stellen sie sich dumm!“
„Und woher weißt du, dass er klug ist?“
„Nur so ein Gefühl!“
„Das ist doch abwegig! Ein solcher Mann - ich meine, mit dieser Ausstrahlung“ - wieder lächelte sie, „hat es doch nicht nötig, sich dumm zu stellen, um Freunde zu gewinnen!“
„Wenn du meinst......“
„Vielleicht bist ja auch du klug, Daniel  - nur so ein Gefühl“, sie lachte mich an, aber die Häme in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen - „dann sag mir doch bitte - wie viel Gedecke hatte jeder Tisch?“
Durch meine ständigen Nachfragen kam heraus, dass sie sich auch schon mit Hermethos selbst beschäftigt hatte: mit seinen hellen, wachen Augen und mit seinem unwiderstehlichen Charme, den sie immer wieder erwähnte. Und schließlich kam auch heraus, dass sie ihn bereits besucht hatte.
Als Trojanisches Pferdchen, das ihr Zugang zu seiner Wohnung verschaffen sollte, hatte sie sich ein Modell eines Tisches gebastelt, eine Weile herumprobiert, hatte die Zahl zwölf gefunden und geglaubt, sich nun eine Tasse Kaffee oder ein Gläschen Sekt verdient zu haben - wer weiß, vielleicht auch mehr! Ich wollte nicht glauben, dass nach Isabelle nun auch Alexa diesem Mann auf den Leim gegangen war - zumal das ein mathematischer Leim war! Oder hat er die Mathematik nur als Vorwand benutzt? Oder hat er die Mathematik nur benutzt, um sich interessant zu machen? Geht das denn?
„Aber es kam ganz anders“, sagte sie, sichtlich empört, „weder Sekt noch Kaffee gab es - einen Schluck Selter hat er mir angeboten, mehr nicht!“
„Also stimmt die Zahl nicht?“
„Doch, die stimmt, hat er gesagt! Aber plötzlich reichte das nicht! Stell dir das vor: Ich gebe ihm die richtige Zahl und er sagt einfach nur: ‚Ja, aber, wie begründen Sie denn das? Was, wenn diese Zahl einfach nur geraten ist? Dann stehen Sie bei der nächsten Aufgabe - sagen wir - nur als Beispiel - bei dem einen Tisch sind 6 und bei dem anderen 9 Stühle stehen geblieben - vor demselben Problem! Und wenn Sie nicht immer raten wollen, dann müssen Sie das durch Überlegung lösen‘, meinte er dann! Und grinste dabei! Als ob das nun wichtig wäre! Bei jedem anderen Mann hätte ich ‚Tschüß‘ gesagt und wäre gegangen - fertig, aus!“
Sie schüttelte nur den Kopf und tippte sich an die Stirn: „Bin ich dann auch!“
„Und wie sieht es in seiner Wohnung aus, ist dir etwas aufgefallen?“
„Nein, was denn, was soll mir denn aufgefallen sein?“
„Irgendeinen Hinweis auf das, was er treibt, womit er sich beschäftigt, Bücher aus der Medizin oder der Anatomie vielleicht!“
„Der ist doch kein Arzt, wie kommst du darauf?“
„Vielleicht, aber wovon lebt er denn? Er muss doch etwas tun, einen Beruf haben, oder?“
„Ja, das habe ich mich auch gefragt!“
„Und, hast du einen Verdacht?“
Sie holte tief Luft und schaute auf den kleinen Teppich, so, als ob sich die Antwort dort in dem Muster herauslesen ließe.
„Da lag ein Blatt mit Zick-Zack-Linien, wie man sie von den Börsenkursen her kennt!“
„Aha - und was noch?“
„In der Ecke stand ein altmodisches Zupfinstrument, so etwa wie eine Gitarre, nur anders!“
„Dass ein Zupfinstrument in der Ecke steht, das, das ist doch nichts Ungewöhnliches, Alexa!“
„Sag mal, was willst du denn hören? Ich bin doch keine Detektivin, die mit Argusaugen eine fremde Wohnung inspiziert!“
Sie zögerte, überlegte kurz: „Ja, noch etwas, das mir aufgefallen ist! Rechts neben der Haustür, da, wo man normalerweise die Namensschilder vermutet, hängt ein Schildkrötenpanzer!“
„Das allerdings ist ungewöhnlich - obwohl ich nicht weiß, was das mit Hermethos  zu tun haben soll!“
„Was willst du eigentlich? Ich erzähle schön brav, was mir aufgefallen ist, und du tust immer so, als ob das alles nicht das ist, was du hören willst!“
„Nichts, nichts! Dann ist das ja erledigt!“
„Leider nicht! Noch immer grüble ich, was er eigentlich wollte! Kannst du dir vorstellen, was er eigentlich wollte?“
„Ich grüble mehr darüber, was du eigentlich wolltest!“
„Das, Daniel, ist ganz meine Sache!“ - wieder ging ein kleiner Ruck durch ihren Körper, und sie streckte mir - kurz, aber entschlossen, wie um mich abzuwehren, die Hand entgegen, so wie es ein Polizist auf der Kreuzung tut, der das entgegenkommende Auto zum Stehen bringen möchte: „Das weiß ich im Augenblick selbst nicht so genau! Was soll man denn von einem Mann halten, der sich hinter Mathematikaufgaben verschanzt?“
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